Gerechtigkeit
Für die Menschen in der westlichen Welt ist mit dem Begriff Gerechtigkeit die demokratische Ordnung, eine pluralistische Gesellschaft, der Rechtsstaat und von diesem verteidigte Menschenrechte verbunden. Die eigenen Werte und das eigene politische System erscheinen als Modell auch für andere Teile der Welt. In der sogenannten dritten Welt gibt es jedoch Tendenzen, diese Art politischer Ordnung, die von den USA und einigen anderen starken Wirtschaftsnationen bestimmt wird, als ungerechte, die Armen benachteiligende Weltordnung wahrzunehmen.
Insbesondere von islamistischen Organisationen wird das Thema Gerechtigkeit immer wieder angesprochen. Dabei wird die westliche Welt zum einen mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung identifiziert, die für die wirtschaftliche Ausbeutung der Armen in der Welt verantwortlich gemacht wird. Zum anderen wird ein Abgehen von religiösen Werten und eine Hinwendung zum Konsum als "Ersatzreligion", welche durch einen Verfall der gesellschaftlichen Bindungen, insbesondere der Familie, begleitet wird, als charakteristisch für den Westen angesehen. Von Alkohol und Drogen über Kriminalität bis hin zur Vereinsamung von Menschen werden alle tatsächlich oder vermeintlich negativen Entwicklungen in westlichen Gesellschaften auf das dort vorherrschende politische und gesellschaftliche System zurückgeführt.
Als Gegenentwurf sowohl zu dieser vermeintlich ungerechten und gesellschaftliche Probleme verursachenden westlichen kapitalistischen Ordnung als auch zum sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaftsmodell wird eine sogenannte "islamische Ordnung" propagiert, in der der Mensch mit sich und seinen natürlichen Anlagen im Einklang lebe. Würde die Gesellschaft nach den Richtlinien des Islam – in der von der jeweiligen islamistischen Organisation für richtig gehaltenen Form – organisiert, so würde die Ausbeutung von Menschen durch den Menschen beendet, alle gesellschaftlichen Probleme gelöst und eine harmonische Welt geschaffen, in der die Menschen mit sich, ihrer Umwelt und Gott im Reinen wären – so zumindest die Vorstellung.
Eine solche "islamische Ordnung" soll auf den Bestimmungen der Scharia basieren, die aus den göttlichen Offenbarungen im Koran und den Überlieferungen der Taten und Worte des Propheten Muhammad schöpft. Da sie von Gott selbst gegeben worden sei, sei sie jeder von Menschen erdachten Ordnung überlegen. Mit der Scharia, die für die meisten westlich geprägten Menschen ein Inbegriff für drakonische Strafen und die Unterdrückung der Frau ist, verbinden die meisten Muslimen positive Vorstellungen von moralisch tadellosem Verhalten, Recht und Ordnung.
Das Gefühl, zurückgesetzt, chancenlos oder ungerecht behandelt zu sein, sprechen islamistische Bewegungen geschickt an und bieten die für Muslime naheliegende Alternative, nämlich eine Ordnung nach der Scharia. Letztere besitzt für viele Muslime den Nimbus der Heiligkeit und stellt eine Verheißung dar. Daher wird oft auch nicht hinterfragt, was genau die jeweilige Scharia-Vorstellung islamistischer Organisationen beinhaltet und wie damit konkret Probleme gelöst werden sollen. Um die Massen anzusprechen und zu mobilisieren, ist eine detaillierte Darlegung der jeweiligen Interpretation der Scharia nicht notwendig. Es reicht beispielsweise schon, Probleme, die auch – aber nicht nur – in westlich orientierten Gesellschaften auftreten, zu benennen, und einen aus der Scharia entlehnten Begriff diesen als Lösung gegenüberzustellen. Auf diese Weise wird das westliche Modell in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als unterdrückend und ungerecht dargestellt, während Islam und Scharia als Rettung von allem Übel und als Inbegriff von Gerechtigkeit herausgestellt werden.